TESTO TEDESCO
REISEN
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Meinen Sie, Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?
Meinen Sie, aus Habana,
weiss und hibiskus rot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?
Bahnhofstrassen und Rueen,
Boulevards, Lidos, Laan -
selbst auf den Fifth Avenueen
fällt Sie die Leere an -
Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.
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(Gottfried Benn, "Gedichte",1949-1955)
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DIE LORELEY
Ich weiss nicht, was soll es bedeuten,
daß ich so traurig bin;
ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
dort oben wunderbar.
ihr goldnes Geschmeide blitzet,
sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
und singt ein Lied dabei;
das hat ein wundersame,
gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
ergreift es mit wildem Weh;
er schaut nicht die Felsenriffe,
er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
am Ende Schiffer und Kahn;
und das hat mit ihrem Singen
die Loreley getan.
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(Heinrich Heine, "Das Buch der Lieder", 1816-1827)
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HERBST
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Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
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(Rainer Maria Rilke, "Das Buch der Bielder", 1902)
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